„Bei so vielen Verkehrstoten müssen wir Klartext reden“
Das Ziel, die Zahl der Verkehrstoten deutlich zu senken, liegt nach wie vor in weiter Ferne. Das zeigen die jüngsten Statistiken aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Berichtet wird meist sehr distanziert und formelhaft. Jetzt zeigt ein neuer Leitfaden, wie Sprache dazu beitragen könnte, das Bewusstsein für mehr Verkehrssicherheit zu erhöhen.
Wien, Bern, Potsdam, 19. März 2025
„349 Menschen sind im abgelaufenen Jahr 2024 auf Österreichs Straßen tödlich verunglückt“ – teilte das österreichische Bundesministerium für Inneres Anfang des Jahres mit. Ähnlich schicksalsträchtig berichteten auch viele Medien über die Verkehrstoten. Die Zahl ist im Vergleich zu den Vorjahren leicht gesunken, sie liegt in Österreich aber deutlich höher als in der bevölkerungsmäßig fast gleich großen Schweiz, wo letztes Jahr im Straßenverkehr 250 Menschen getötet wurden. Wenn ein Mensch im Verkehr stirbt, dann beschreibt man das üblicherweise so: Er oder sie verunglückte, erlag den eigenen Verletzungen, zog sich tödliche Verletzungen zu.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Formulierungen dieser Art unternimmt der eben veröffentlichte Leitfaden „Unfallsprache – Sprachunfall“. Fachleute des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Wien, des Centre for Development and Environment der Universität Bern und des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit (RIFS) am Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam sowie Expert:innen der Polizei, Mobilitätsplanung und Medien haben zahlreiche Unfallberichte aus Österreich, Deutschland und der Schweiz analysiert. Ihr Befund: Verkehrsunfälle werden meist als schicksalhafte Ereignisse beschrieben. Und fast immer sind sie als isolierte Einzelereignisse dargestellt.
„Die Art, wie wir über Unfälle sprechen, prägt unser Verständnis von Verantwortung und Prävention“, sagt Sprachwissenschaftler Hugo Caviola, der das Projekt in Bern leitete. „Polizei und Medien berichten aber oft nur knapp und formelhaft über Verkehrsunfälle, die dadurch als unvermeidlich wahrgenommen werden.“ Dirk von Schneidemesser, der in Potsdam am Projekt mitarbeitete, ergänzt: „Was nicht erwähnt wird, ist genauso wichtig wie das, was gesagt wird. Nur etwa fünf Prozent der Unfallberichte nennen eine Statistik – und ohne diesen Kontext wirken Kollisionen wie Einzelfälle. Doch bei über 2.500 Toten und insgesamt mehr als 280.000 Verletzten in Deutschland pro Jahr ist klar: Das ist kein Zufall, sondern ein systemisches Problem. Lösungen gibt es längst – sie müssen nur Priorität bekommen.“
Ein Leitfaden für eine präzisere Sprache
Der Leitfaden richtet sich insbesondere an Polizei und Medien. Er soll aber auch dazu beitragen, die Verantwortung aller für die Verkehrssicherheit sprachlich sichtbar zu machen.
Dazu gibt er Empfehlungen:
● Unfälle nicht als Schicksal, sondern als menschengemacht darstellen.
Beispiel: „A und B kollidierten“ statt „Es kam zum Unfall.“
● Alle beteiligten Personen und deren Handlungen benennen.
„Fußgängerin von Radfahrer angefahren“ statt „Fußgängerin angefahren“.
● Die Perspektiven der Beteiligten klar kennzeichnen.
Beispiel: „Der Autofahrer erklärte, er habe die Fußgängerin übersehen.“ statt „Der Autofahrer übersah die Fußgängerin.“
● Den Ermittlungsstand transparent machen.
Beispiel: „Wie schnell die Autofahrerin unterwegs war, ist nicht bekannt.“ statt „Die Hintergründe des Unfalls sind Gegenstand der Ermittlungen.“
● Einzelereignisse in einen größeren Zusammenhang stellen.
Beispiel: „Das ist die vierte Kollision auf dieser Kreuzung in diesem Jahr.“
„Unsere Anliegen sind, dass in der Berichterstattung zu Kollisionen im Verkehr empathischer über die Opfer berichtet wird und dass die menschliche Verantwortung ebenso wie die infrastrukturellen und gesellschaftlichen Ursachen für die Kollisionen genauer benannt werden“, so Martin Reisigl, der zusammen mit Andrea Sedlaczek in Wien am Projekt mitarbeitete: „Eine klare Sprache zum Problem der Verkehrsunfälle ist bewusstseinsbildend und kann dabei helfen, nachhaltigere Mobilität auf den Weg zu bringen.“
Der Leitfaden liegt in drei Versionen vor: als ausführliche Textfassung, als Kurzbroschüre und als Infoblatt – sowohl digital als auch gedruckt.
Der Leitfaden steht unter sprachkompass.ch/themen/verkehr/sprachunfall-unfallsprache digital zur Verfügung. Gedruckte Exemplare können Sie bei Martin.Reisigl@univie.ac.at kostenlos bestellen.
Wissenschaftliche Ansprechpersonen
Österreich: Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien
Martin Reisigl
E-Mail: Martin.Reisigl@univie.ac.at,
Tel. +43 1 4277 41712
Schweiz: Centre for Development and Environment der Universität Bern
Hugo Caviola
E-Mail: hugo.caviola@unibe.ch,
Tel.: +41 61 921 21 71
Deutschland: Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) am GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam
Dirk von Schneidemesser
E-Mail: Dirk.von.Schneidemesser@rifs-potsdam.de,
Tel.: +49 331 6264 22430